Er ist den Umweltreizen ausgeliefert und kann sich nicht koordiniert bewegen, sondern nur grob, fast unwillkürlich seine Körpermasse hin- und herschaukeln und sich so spüren, wenn er nicht gerade fest eingewickelt ist und dadurch spürt, dass er sich nicht bewegen kann - und sich zu spüren erfüllt ihn mit Lust.
Ortsveränderungen sind ihm nicht möglich - seine Lage im Raum, wann, ob und wohin er bewegt wird, bestimmt nicht er, sondern andere. Mit dem, was er hört, kann er nichts anfangen, auch Sprechen ist ihm nicht möglich, oft rinnt ihm Speichel unkontrolliert aus dem Mund. Er ist hilflos und komplett auf die andere Person angewiesen, die damit die Verantwortung hat, auf seine menschlichsten Bedürfnisse, wie Ernährung, Schlaf, Hygiene und Wärme aufzupassen.
Menschliche Nähe erlebt er, wenn diese Person sich ihm aktiv zuwendet, sodass er sie hört, riecht schemenhaft sieht und auch schmeckt; wenn er passiv ihr gehalten wird, ihren Körper spürt. Selbst, sich ihrem Körper, ihrer Person nähern, ihn mal anfassen, kann er nicht - nur zufällig mit seinen Fingern spüren, streifen. Einen Willen, oder gar die Fähigkeit diesen Auszudrücken hat er nicht, weil er kein Selbst, sondern nur das Potential dazu hat: der Mensch im Alter von 3 Monaten; und wenn er diese menschliche Nähe erlebt, die noch nicht mal eine soziale Beziehung ist (weil er Objekt und die andere Person allein das Subjekt ist), wird er getröstet oder sogar glücklich und vielleicht auch von Lust erfüllt.
Welcher, auf passiver (!) Seite BDSM erlebende, oder ersehnende Mensch kann das nicht auch noch im Erwachsenen-Alter nachvollziehen? In Verbindung mit inszenierter (weil einvernehmlicher) Gewalt erleben viele von uns Ähnliches; könnte das also eine Analogie sein? Muss es immer eine Pathologisierung sein, wenn wir uns SM erklären, oder könnte es nur der Versuch sein, eine als Lustvoll erlebte und nur sehr vage erinnerte Situation wieder zu erleben, wozu wir ein schlüssiges Setting benötigen, das für uns eben aus dieser erotisierten Gewalt-Inszenierung besteht?
Im Bewusstsein, dass es uns kaum möglich sein wird, diese Frage abschließend und eindeutig zu beantworten, soll doch jeder für sich selbst Anstöße für seine eigene Selbst-Definition erhalten.
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Fast ein halbes Dutzend am Thema interessierte Gesprächskreisteilnehmer trafen sich, um sich darüber auszutauschen, ob sadomasochistische Vorlieben mit Regression gleichzusetzen seien und warum von Sadomasochisten selbst zumeist pathologische Erklärungsmodelle angeführt werden. Bei der Frage, warum jemand so ist, wie er ist, wird nach Traumata und frühkindlichen Verletzungen oder Fehlern im Elternhaus gesucht. Auch Leute, die davon nicht betroffen sind (wiewohl es diese unter BDSMlern gibt) mutmaßen, vielleicht doch eine latente Neigung zu einer Borderline-Störung, Autismus oder zumindest ADHS zu haben.
Im Input zum Start des Abends wurde erklärt, dass es aktuell kein wissenschaftlich gesichertes Erklärungsmodell gibt, wie sexuelle Präferenzen sich entwickeln, wovon sich der Moderator noch kurz vor dem Gesprächskreis anhand einer Präsentation von einem sexualmedizinischen Vortrag, am Universitätsspital Basel, aus dem Jahr 2020 überzeugt hatte. Die Ursachen sexueller Präferenzen können demnach nur im Zusammenspiel
sozialer, kultureller Faktoren, wie dem Einfluss der Eltern hinsichtlich der Erziehung (nicht, hinsichtlich derer eigenen sexuellen Orientierung!) sowie Normen und Kultur der Gesellschaft, die großen Einfluss auf die Selbstakzeptanz haben und
biologischer Faktoren, wie Genetik oder der Wirkung von Hormonen vermutet werden.
Warum es dann zur Ausprägung sadomasochistischer Vorlieben kommt, bleibt weitgehend im Dunklen. Aktuell gibt es keine Erklärung dafür (außer, dass Schmerz über hormonelle Reaktionen luststeigernde Wirkung haben kann).
Oft unterliegt eine Eigenschaft, die von der Durchschnittsnorm abweicht, einem gewissen Rechtfertigungsdruck. Von Außen oder von Innen wird die Frage gestellt: Warum ist das anderes? Doch warum geht die Antwort so oft in Richtung Pathologisierung? Ist die Zugehörigkeit zum Durchschnitt schon ein Zeichen für psychische Gesundheit?
Zum Einstieg wurde darum die Frage gestellt, wer von den Anwesenden sich selbst schon gefragt hat, warum er oder sie sadomasochistische Vorlieben hat.
Eine Anwesende erklärte, dass sie diese Erfahrung habe, doch vor allem in der Pubertät setzte sich jeder Mensch damit auseinander, warum er so ist, wie er ist. Auch hinsichtlich ihres christlichen Glaubens habe sie sich später diese Frage gestellt, allerdings in den letzten Jahren nicht mehr. Aufgefallen sei ihr dies erst in den letzten zwei Jahren, als sie mitbekam, dass ein Partner sich bezüglich eines Fetisches wiederholt die selbe Frage stellte.
Der nächste Teilnehmer berichtete auch, dass er sich diese Frage mit etwa 10 Jahren gestellt habe. Anhand dieser habe er sich dann lange und wiederholt mit Sexualität(en) beschäftigt, was ihn abschließend dazu brachte, einen Beruf zu ergreifen, der sich beraterisch mit diesem Thema beschäftigt. Persönlich sei er mit diesem Thema durch, seit er viel von anderen gehört hat, die ihr Anderssein allerdings oft nicht ausleben.
Ein weiterer Anwesender fand sich in weiten Teilen des Einladungstextes wieder, obwohl er kein Age-Player sei. Die Antwort, woher dies käme, sah er entsprechend darin, dass ihm möglicherweise vieles davon in der Kindheit sehr gefallen habe, weshalb es ihm auch heute noch gefällt.
Der nächste betonte, dass die Bewertung sexueller Vorlieben in der Regel vom gesellschaftlichen Kontext abhängig ist. Er selber habe seine Neigungen in einem mehrteiligen Podcast über BDSM wieder gefunden und sich gefragt, warum andere sich so fühlten und ähnliche Gedanken haben, wie er.
Ein weiterer Anwesender berichtete ebenfalls von seiner Entdeckung des Wortes "sexuelle Störung" im Zusammenhang mit der Definition von Masochismus in einem Konversationslexikon, im vorpubertären Alter. Dies brachte ihn dazu gebracht habe, sich mit seinen bis dahin, naiverweise einfach als "anders" empfundenen Wünschen selbst zu pathologisieren und zu stigmatisieren - zu leiden. Die Frage habe sich ihm insbesondere hinsichtlich des Glaubens, der in seinem christlichen Elternhaus praktiziert wurde, gestellt, warum er etwas habe, was er sich nicht herausgesucht hatte, aber das mit Sicherheit nicht normal sei - ob Gott alle anderen Menschen lieben würde, nur ihn selbst, aus unerfindlichen Gründen eben nicht; sodass er später mutmaßte, vom Teufel besessen zu sein.
Glücklicherweise führte sein Studium der Sozialwissenschaften dazu, eine irdische, psychologische Ursache zu suchen, allerdings ebenfalls orientiert an dem Begriff der "Störung" - also in eine pathologische Richtung gehend: Welche Verletzungen habe ich in meiner Kindheit erlitten, dass ich jetzt so bin? Der Kontakt mit seinem Klientel, dessen Verhalten auch oft unerklärlich schien, subjektiv auf fachliche Weise jedoch eher verstehbar oder zumindest akzeptiert wurde, sowie später einige Gespräche mit einer Dozentin, die für ihn dann noch eine fachliche Autorität darstellte, und ihm Bestätigte, so sein zu dürfen, wie er ist, habe ihm sehr geholfen, sich selbst mit seinen Neigungen zu akzeptieren.
Bei der offenen Diskussion hinterfragte dann gleich eine Teilnehmerin, warum man sich zum Beispiel die Frage stelle: Gott mag mich nicht - warum? Und nicht: Warum mag mich Gott? Wieso "Warum kann ich nicht einparken", statt "Park doch du für mich ein, wenn du das besser kannst!"
Wird diese "Warum-Frage" eher bei negativen Erfahrungen gestellt?
Es gibt eine unbewusste Normativität, von der wir alle ausgehen, erklärte ein Anwesender. Jede negative Abweichung wird in Erklärungsnot gebracht, so auch die der Sadomasochisten. Wer anders ist, hat das Gefühl sich erklären zu müssen - allerdings eben: nicht nur Sadomasochisten! Es wird beispielsweise vorausgesetzt, dass man seinen Körper mag. Ein Mann, der sein Genital nicht sehr schätzt, kann daraus schon schnell die Frage ableiten: Warum ist das bei mir so?
Selbst wenn die Gesellschaft nicht viel über das Anders sein weiß - weil der Betreffende sein es noch nie einem Mitmenschen berichtet hat - wird davon, in welcher Weise und wie oft, das abweichende Merkmal in der Gesellschaft und ihren Medien repräsentiert ist, die Schlussfolgerung gezogen, anders zu sein und abzuweichen. Die Vorstellung von Liebe und Zärtlichkeit wird einem Kind auch anders repräsentiert, als durch (hoffentlich nur) inszenierte Gewalt.
Ein Teilnehmer berichtete von seiner Erfahrung aus der Bundeswehr-Zeit, dass er beim Besuch der Videothek eines Sex-Shops, im digitalen Inhaltsverzeichnis durch etwa 60 verschiedene Titel zappen konnte und nur zwei Videos sprachen ihn an - die beide etwas mit Latex und Bondage zu tun hatten, daraus entstand bei ihm das Gefühl, anders als andere zu sein, zu einer Minderheit zu gehören. Warum entstand nicht das Gefühl, etwas Besonderes zu sein?
Dass unter den Teilnehmern alle eine andere, individuelle Sexualität hätten, postulierte dann ein Anwesender. Ein anderer ergänzte, dass in unserer Gesellschaft eben eine medizinische Sichtweise bestünde, und die sei eben eine pathologische. Wir suchten danach, welche Abweichung krank sei. An dieser Stelle wurde der neuere Ansatz in der Medizin, der Salutogenese, vorgestellt, die in den 70er Jahren von einem amerikanisch-israelischen Medizinsoziologen vorgestellt wurde. Hier wurde nicht danach gefragt, was krank macht, sondern was gesund hält.
Wie kann man Menschen helfen, die all dies theoretisch gut fänden, abschließend aber erklärten: für sie fühle sich ihre Abweichung immer noch nicht stimmig an, wollte eine Teilnehmerin aus der Runde wissen.
Es wurde vorgeschlagen, ihn mit anderen Leuten zusammen zu bringen, die auch irgendwelche abweichenden Vorlieben hätten (wie einem Gesprächskreis oder einem BDSM-Stammtisch). Ein anderer Anwesender schlug zunächst das Buch "Schatz ich bin ein Ferkel" von Arne Hofmann vor, in dem anhand üblicher, Gesprächsführungskonzepte vorgestellt wird, wie man über Abweichungen sprechen kann - bei gleichzeitiger Warnung, dass das Gegenüber sich mit dem Thema der Abweichung vielleicht selbst noch nicht auseinander gesetzt hat und überfordert sein könnte, wenn es damit überhäuft wird. Und wenn alles andere nichts helfe, könne doch der Gang zur klassischen Klientenzentrierten Gesprächstherapie nach C. Rogers, helfen. Hier wäre es Aufgabe des Therapeuten, dem Klienten zu einem Einklang von Denken, Fühlen und Handeln zu verhelfen, indem er ihn bedingungslos akzeptiert, ihn versteht und sich einfühlt und dies auch durch aktives Zuhören entsprechend zurück spiegelt.
Die Betreffende berichtete davon gute Erfahrungen damit gemacht zu haben, den entsprechenden Fetisch einfach explizit zu akzeptieren - schlichtweg, weil sie den betreffenden liebe.
In langjährigen Paarbeziehungen kann dies ein Weg sein, allerdings auch das Problem ergeben, in dem das Gegenüber diese Akzeptanz einfordert: "Wenn du mich liebst, dann musst du das akzeptieren..."
Hilfreich kann hier nur absolute Transparenz und Offenheit sein. Wenn dann aber der gute Wille und alle Liebe nicht ausreicht, um diese Akzeptanz her zu stellen, weil einer einfach mehr von diesem Thema braucht oder der andere langsamer mit seiner Akzeptanz ist und gegenseitige Erwartungen, Forderungen und Frustrationen entstehen, kann dies der Stoff sein, der den Gang zum Paartherapeuten begründet.
Ein Anwesender fand, dass die Frage nach Regression, zu kurz gekommen sei. Dazu wurde erläutert, dass der Begriff von Sigmund Freud eingeführt wurde. Freud ging davon aus, dass die menschliche (Sexual-) Entwicklung in verschiedenen Stufen abläuft, die jeweils überwunden werden müssten, bis am Ende eine reife Sexualität entstünde. Kommt es zu einem Konflikt, fällt der Mensch auf eine vorherige Stufe zurück - und macht dies in einer überfordernden Situation immer wieder. [Nachträgliche Anmerkung: Schon im Eingangstext des Wikipedia-Artikels steht zum Thema Regression, dass diese zwar als Abwehrmechanismus aufgefasst wird, aber nicht dysfunktional sein müsse, weil sie zur Selbststabilisierung beitrage und somit einen Beitrag zur Selbststeuerung darstellt].
Auch andere pädagogische Denkmodelle, wie das von Jean Piaget,, verfolgten den Gedanken von verschiedenen Phasen der kognitiven Entwicklung, die in Stadien verlaufen und von dem jeweils nächsten Stadium abgelöst werden. Modernere Denkmodelle, wie das Modell der Lebensformen, des in der Behindertenhilfe vertretenen GBM-Verfahren verfolgten eher den Gedanken, dass die Ausformung aller (relativ willkürlich in "Lebensformen" zusammengefasste) Ausdrucksformen der Fähigkeiten eines Menschen, von Anfang an angelegt sind und sich in verschiedenem Alter anders darstellen - also nicht verschwinden.
Wenn man BDSM aber einfach als einen weiterhin offenen Kanal betrachtet, der es ermöglicht, Erfahrungen eines nur vage erinnerten, als positiv erlebten Zustand erneut abzurufen und zu durchleben und so für sich nutzen zu können, wäre dies keine dysfunktionale Rückentwicklung auf ein früheres Niveau. Warum aber im Design von inszenierter Gewalt, Macht, Schmerz, Hilflosigkeit und Unterwerfung? Vielleicht wäre eine Erklärung, dass dies einem erwachsenen Menschen ermöglicht, seine in unserer Gesellschaft im Laufe seiner Sozialisation, und kognitiv- motorischen Entwicklung, erworbenen Fähigkeiten, die diese Erfahrungen behindern, auf stimmige Weise auszublenden ohne künstlich (und unauthentisch) so zu tun, als hätte er die Fähigkeit, sich starken Reizen und der Macht einer anderen Person über ihn zu entziehen nicht - um sich dieser berauschenden (Beziehungs-) Erfahrung möglichst umfänglich und lustvoll hingeben zu können.
Auffällig ist ja, dass bei künstlerischem Ausdruck und Kreativität auch eine gewisse Orientierung an spielerischer, unbedarfter, nahezu kindlicher Kreativität stattfindet und selbst theologisch gibt es die Forderung, zu werden, wie die Kinder. Die Aufteilung der Akteure beim BDSM in einen aktiven und passiven Part ermöglicht auch die Erfahrung, dass sich eine Person lustvoll mit der Anderen beschäftigt, das Ambiente kann das seine dazu tun.
Warum sollte in diesem Sinne Regression pathologisch sein, sofern sie jederzeit wieder beendet werden kann? Auch Fußballfans reagieren in ihrer Begeisterung für ein laufendes Spiel zuweilen etwas kindlich, liegen sich in den Armen, sind schnell emotional erregt usw... ebenso Karnevalisten oder Konzertbesucher.
Am Ende des Abends blieb bei einem der Teilnehmer das Gefühl, dass der gesellschaftliche Rahmen, die Normalität festlegen mag, aber er selbst normal sei, würde er entscheiden. Ein Besucher hatte zunächst andere Erwartungen, durch die im Einladungstext geweckten Assoziationen, fand sich abschließend aber im Abend wieder. Gerade die sehr kleine Runde fanden die restlichen Teilnehmer sehr geeignet für dieses Thema, wobei der Moderator, die Ursache für die gute Gesprächsqualität auch einfach in der Reflexionsbereitschaft und Teilnahme der Anwesenden sah.
Datum: | 30.08.2024 |
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Uhrzeit | 20:00 Uhr |
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Anfahrt über B 14/B29: Anfahrt mit öffentlichen Verkehrmittel siehe Homepage der VVS |
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